Impressum
Brecht - ein Europäer?
EU, Währungsunion, Durchlässigerwerden der Grenzen, EU-Osterweiterung, eine neue Art von Gemeinschaft - programmatische Ideen, die noch lange ihrer Verwirklichung entgegen sahen, als sich schon Literaturwissenschaft und Philosophie ihrer bedienten. Und schon häuften sich Dissertationsthemen wie "Thomas Mann und Europa", "Nietzsche und Europa" und ähnliche, manche davon recht bemüht, andere jedoch mit durchaus großem Erkenntniswert. Was also läge näher, als auch das Werk Brechts in dieser Hinsicht zu befragen? Worin erweist er sich als Europäer oder gar Kosmopolit, wenigstens in nuce?
Anknüpfungspunkte scheint es hinreichend zu geben. Man denke etwa an Staffage und Schauplätze der Stücke, viele davon fremdländisch, manche gar exotisch. Dann Brecht selbst: bekanntermaßen war er weit herumgekommen als Exulant, "öfter als die Schuhe die Länder wechselnd", wie er so schön formulierte. Und schließlich der Kampf des "klassenkämpferischen" Dichters für die Internationale, die "Diktatur des Proletariats", die letztlich doch nur weltweit realisierbar sei. Weitere Aspekte dieser Art ließen sich mühelos anführen.
Bei näherem Hinsehen wird schnell deutlich, dass sich hinter solchen Bemühungen allzu erkennbar der Wunsch versteckt, nun auch Brecht unbedingt in die europäische Zukunft mitzunehmen, koste es, was es wolle. Schauplätze parabelartiger Stücke liegen in der Literaturgeschichte nun einmal häufig jenseits banaler und enger Alltäglichkeit, um ihr Allgemeingültiges und Überzeitliches hervorzuheben. Brecht selbst wäre am liebsten in Deutschland geblieben, wenn es die Geschichte zugelassen hätte. Und gerade von seinem angeblichem Marxismus Grenzenüberschreitendes abzuleiten, ausgerechnet zu einer Zeit, in der damit begonnen wird, den Autor von ideologischen Vorurteilen und Allgemeinplätzen zu befreien, scheint gleichfalls mehr als fragwürdig.
Seien wir also ehrlich: Den "Europäer" Brecht gibt es im Werk nicht, schon gar nicht den "Osteuropäer". In diesem Sinne Millionen umschlingen zu wollen, war seine Sache nicht. So etwas lag außerhalb seines Gesichtfeldes; er hatte sich, gerade auch in der Zeit der Neuorientierung, nach seiner Rückkehr aus dem Exil, mit anderen Herausforderungen zu befassen. Dass ihm, wie den meisten anderen Menschen auch, am Weltfrieden und der Verständigung der Völker untereinander gelegen haben mag, ist, wie man von der Kinderhymne und vielen anderen Beispielen ableiten möchte, zweifellos richtig; ihn als Proto-Europäer moderner Auffassung auszumachen, dürfte dennoch schwerfallen.
Dessen ungeachtet ist Brecht aber als das, was er selbst immer werden wollte, als "Klassiker" der Literatur, längst in Europa angekommen. Die Rezeption seines Werkes im Ausland ist enorm, keineswegs nur im "alten Europa", in Amerika und vielen Ländern der Dritten Welt, auch in den aktuelleren Beitrittsländern. Kehren wir also lieber den Blickwinkel um: Fragen wir nicht, was Brecht wohl von der "Vision Europa" gehalten habe, sondern was es ist, das ihn auch und gerade für Europa so interessant macht.
Auch hier kann es bei der Komplexität von Brechts Werk keine einfachen Antworten geben, umfassende schon gar nicht. Warum lesen denn wir Balzac und Sartre, Joyce und Beckett, Dostojewski und Tschechow? Zweifellos ein "weites Feld". Ein Einzelaspekt jedoch scheint Brecht in besonderem Maße "europatauglich" zu machen, gerade auch in den neuen Beitrittsländern: Es ist sein wiederentdeckter Materialismus, der gerade im Begriff ist, von ideologischen Verengungen freigeschaufelt zu werden. Bereits der Zwanzigjährige war überzeugt davon, dass "nichts nachher komme", eine Erkenntnis, die sein zukünftiges Leben bestimmen sollte. Aus ihr resultiert der Appell, sich kompromisslos an das Gegebene zu halten, sich "hier und jetzt" dem irdischen Leben hinzuwenden, ohne sich von Versprechungen oder Forderungen, die Religion und Politik an den Einzelnen stellen, davon abbringen zu lassen. Ein nüchterner, aber duchaus sich dem Leben stellender Zugriff auf die Wirklichkeit; von Nihilismus kann dabei keine Rede sein.
Diese - wenn man so will - Einsicht Brechts bestimmt natürlich auch das Werk, und zwar überraschenderweise beinahe von Beginn an. Für "Botschaften" und "Moralen" war kein Platz, schon in der Schülerzeitschrift Die Ernte nicht. Brecht ging es nämlich darum, die Zeit zu nutzen, die er als Dichter hatte, im "hier und jetzt" und in Anbetracht des allzeit "spürbaren Nachtwinds". Dichter wollte er unter allen Umständen werden, und zwar ein bedeutender. Erstaunlich abgeklärt, mit großer Geduld und beinahe alles vereinnahmenden Aufwand versuchte er, sich die Voraussetzungen dafür zu schaffen: Eine profunde Kenntnis der Weltliteratur und - vor allem - die handwerkliche Fertigkeit, die Schreibfähigkeit, ohne die ihm sein großes Talent, dessen Brecht sich durchaus bewusst war, wenig genutzt hätte. So kommt es auch, dass in den frühesten "Versuchen" bereits alles nebeneinander stehen konnte: Naturlyrik, kleine Satiren, religiöse Dichtung und solche mit historischen Themen, Dramenentwürfe - ein Ringen mit Formen und Genres, die Brecht, ungeachtet ihrer "Botschaft", zunächst übend kopieren wollte, so wie er auch den Sprachduktus verschiedenster Dichter nachahmte. Als er dann die Möglichkeit hatte, erstmals eigene Texte in Augsburger Tageszeitungen bewundern zu können, richtet er sich ohne Zögern nach den "Forderungen des Tages", die ab August 1914 nicht zuletzt auch "geistige Mobilmachung" bedeuteten. Dass der Nationalismus der vierzig Beiträge, die Brecht in der folgenden Zeit für die Augsburger Neuesten Nachrichten, die München-Augsburger Abendzeitung und deren literarische Beilagen schrieb, vorgegeben, "gemacht" ist, es sich um ästhetische Gebilde - Dichtung eben - und keine politischen Statements handelt, stellt ein genauerer Blick auf diese Texte außer Zweifel.
Schon bald waren Brechts Dichtungen so eigen und in ihrer prononcierten Antibürgerlichkeit derart kompromisslos, dass für eine gewisse Zeit keine Veröffentlichungsmöglichkeiten mehr gefunden werden konnten. Viele von ihnen sollten dann später in die Hauspostille eingehen. Auch diese Gedichte sind beherrscht von jener provokant-nüchternen Hinwendung zum Leben, die keinen Raum lässt für gesellschaftliche und religiöse Ideale oder Maximen, umso mehr jedoch für Ambivalenz und faszinierende Vielschichtigkeit. Sehr politisch hingegen sollten dann konkret für Brecht die Auswirkungen seiner Legende vom toten Soldaten sein, in der er die wilhelminische Kriegspolitik in unvergleichlicher Weise ad absurdum führt. Sie trug dazu bei, dass Brecht bereits wesentlich früher als manch anderer als Feind der Nationalsozalisten galt und unmittelbar nach deren "Machtübernahme" Deutschland verlassen muste, wollte er nicht sein Leben riskieren. Dabei hatte er in diesem Gedicht in erster Linie das Kriegsschicksal seines Freundes Caspar Neher gestaltet, der ihm fehlte und umzukommen drohte. Machtstrukturen, die den Einzelnen instrumentalisieren, waren der Gegenstand dieser grotesken Polemik, nicht der Entwurf politischer Programmatik. Folgerichtig widersteht dann auch Kriegsheimkehrer Andreas Kragler, der Protagonist aus Trommeln in der Nacht, den Vereinnahmungsversuchen der Räterevolutionäre und kümmert sich, anstatt sich abermals vor einen Karren spannen zu lassen, der seiner nicht sein konnte, um die eigenen Interessen. Dies wiederum tat auch Brecht zu etwa gleicher Zeit, als er die erste Fassung von Baal verharmloste, ihm damit einen Teil seines literarischen Reizes nahm, um überhaupt Verleger und Aufführungmöglichkeiten zu finden. Sich so konkret als Theaterautor ins Gespräch bringen zu können, war ihm wichtiger, als irgendwelche idealistisch anmutenden Vorstellungen und Ideale von Literatur. Also auch hier eine durchaus "moderne" Auffassung von Dichtung. Nichts als konsequenter Materialismus, die nüchterne Besinnung auf die Wirklichkeit und das Machbare, wenn es darum ging, sich als Schriftsteller den Weg zu ebnen.
Und so sollte es weitergehen; auch nach Brechts vermeintlicher Hinwendung zum Marxismus, die nicht zuletzt aus der durchaus schmerzlichen Erkenntnis resultierte, dass dem NS-Barbarismus wohl keine andere, wirklich ernst zu nehmende Alternative entgegenzusetzen sei. Vorbehalte der Revolution gegenüber lassen sich dennoch immer wieder deutlich ausmachen, Taktieren, trotz Fruchtbarmachung gerade auch der marxistischen Methode für das eigene Werk. So bleibt der Tod für den Einzelnen ein Skandalon, selbst wenn er "der Sache dienen" mag - eindringlich vorgeführt am Beispiel des "jungen Genossen" aus der Maßnahme. Den sehr konkreten "Forderungen des Tages", diesmal an ihn herangetragen von der SED, beugte Brecht sich abermals, als er 1951 die Lukullus-Oper überarbeitete, damit sie öffentlich aufgeführt werden konnte. Nur kurz zuvor wiederum hatte er in Augsburg - aus gegebenem Anlass mehr oder weniger inkognito - Gespräche über die Gründung eines Theater-Ensembles auch in Westdeutschland geführt.
Es lag nicht zuletzt an Brecht selbst, dass er mehr oder minder als marxistischer Dichter angesehen werden konnte. Dies resultierte aber gerade aus jenem illusionslosen Materialismus, der ihm die Bereitschaft und die Fähigkeit verlieh, sich um seiner Kunst willen dem Gegebenen, der jeweiligen sehr "konkreten Wahrheit" anzupassen. Scheinbar nicht unbedingt die beste Voraussetzung, als Europäer par excellence zu gelten. Denn der Traum von jener nicht nur europa-, sondern weltweiten "Diktatur des Proletariats" scheint endgültig ausgeträumt.
Alle - je nach Blickwinkel -Vereinnahmung oder Stigmatisierung als Marxist konnte jedoch nicht verhindern, dass die einzigartigen ästhetischen Qualitäten seines Werkes ihre sehr eigene Dynamik entwickelten. Diesen gelang es, recht früh alle Klischees und Schablonen zu durchbrechen, die über Brecht gestülpt wurden und führten dazu, dass er in erster Linie um seiner selbst, aufgrund der Faszination seines Werkes gelesen und inszeniert wurde und nicht, weil man Brecht "verordnet" bekam.
Und was seine "Flexibilität" und Anpassungsfähigkeit angeht: Sie mag zwar erheblichen Anteil daran gehabt haben, dass er vereinnahmt werden konnte. Aber die früh ausgeprägte Erkenntnis, dass auch politische Ereignisse als "Material", als "Theater" zu betrachten seien, die für den Dichter in erster Linie hinsichtlich ihrer ästhetischen Verwertbarkeit von Interesse sind, schuf gleichzeitig auch Distanz zum Gegenstand. Sie machte Brecht früh immun gegen "Verführbarkeit" durch Politik und Religion und das Werk gerade auch in dieser Hinsicht im Grunde tendenzlos und überzeitlich; trotz tiefster Verwurzelung in der deutschen Kultur weitestgehend unberührt und unabhängig von nationalen Parolen und Idealen, aber auch Ideologien. Vielleicht ist es dies, was Brecht "europa-kompatibel" macht, sein Werk zu einer Herausforderung werden lässt auch dort, wo Trennendes geradezu programmatisch überwunden werden soll, ohne das je Eigene aufs Spiel zu setzen.